FRITZ REHEIS: Entschleunigung - Abschied vom Turbokapitalismus.
Riemann, München 2003. 220 S., 20 Euro.

Wege aus dem Hamsterrad

Erst wenn der letzte Projekt-Manager mit Herzinfarkt im kühlen Grab liegt,
werdet ihr begreifen, dass man Zeit nicht sparen kann. Warum aber müssen
schon unsere Jügsten dauernd schneller mit irgendetwas fertig werden?
Erhard Eppler über ein Buch, das sich (endlich) diesem Thema widmet.


Ein Hamsterrard - nein, ein Hunderennen, nein ... egal wie: die jungen
Leute müssen im Laufe ihres Lebens immer mehr Zeit als Arbeitslose
verbringen. Eine Zeit, für die dann genau die Tugenden verlangt werden,
die man in der "Beschleunigungsfalle" nicht erlernen kann.

Wo ist der Briefträger geblieben, der, wenn er eine Postkarte brachte,
schon von weitem rief: "Tante Anna kommt erst übermorgen!"? Inzwischen
hasten gehetzte Weiblein und Männlein mit ihren voll gepackten
Karren durch die Straßen und sorgen für die Dividende der Postaktionäre.
Sicher, sie haben kürzere Arbeitszeiten als ihre Kollegen vor hundert
Jahren, sind auch besser bezahlt.

Trotzdem können sie einem Leid tun. Überall Zeitdruck, und dies in einer
Epoche, in der es mehr Freizeit gibt als je zuvor. Der Druck beginnt in der
Schule, wo 45 Prozent der 14- bis 19-Jährigen oft oder gar immer "Zeitnot"
verspüren. Damit es demnächst 70 Prozent werden, soll nun das Abitur
 in acht statt in neun Jahren erreicht werden.

Dafür dürfen die jungen Leute im Laufe ihres Lebens wohl ein Jahr mehr
als Arbeitslose verbringen, wenn es gut geht - zwischen zwei Jobs, für die
dann genau die Tugenden verlangt werden, die man in der "Beschleunigungsfalle",
so Autor Reheis, nicht erlernen kann.

Entweder man strampelt im Hamsterrad, das man notgedrungen selbst
beschleunigt, oder man sitzt vor dem Fernseher und verquatscht die
gewonnene Zeit am Handy.

» Trotzdem können sie einem Leid tun. «

Die Wirtschaft fordert die Abschaffung der Feiertage, als ob wir für viel
zu viel Erwerbsarbeit zu wenig Zeit hätten. Was ist in uns gefahren?
Fritz Reheis schildert, was vor sich geht: Schon die Schule überstehen
viele nur mit Medikamenten oder Drogen, ganz abgesehen von Nikotin
und Alkohol.

Und 84 Prozent der Manager beklagen, dass der Stress sich in den
letzten fünf(!) Jahren deutlich gesteigert hat. Reheis staunt über eine
Gesellschaft, die sich seit 200 Jahren erfolgreich bemüht, Zeit einzusparen,
und nun keinen Ausweg mehr findet aus der ständigen Eile. Alles muss
schneller gehen. Warum?

Weil der Turbokapitalismus Beschleunigung erzwingt, wobei die Kapitalmärkte
das Tempo angeben. Diese alt-neue Spielart des Kapitalismus hat inzwischen
Macht erlangt über Bereiche, die lange ihre eigenen Rhythmen durchhalten
konnten: Kultur, Medien, Gesundheitswesen.

Was in der Wirtschaft die Quartalsberichte bewirken, schaffen in der Politik
die Meinungsumfragen. Nicht einmal Schulen und Kirchen können sich der
Beschleunigung entziehen. Reheis zitiert eine Ärztin aus einer privatisierten
Klinik: "Früher hatten wir noch Zeit für die Patienten." Jetzt gehe es darum,
"mit der Arbeit irgendwie fertig zu werden".

» Früher hatten wir noch Zeit für die Patienten. «

Natürlich gibt es das, was Reheis "kleine Notausstiege" oder auch "Zeitinseln"
nennt. Teilzeitarbeit, Sabbatjahre, viele Formen des Ausstiegs. Aber "ein
geordnetes Bremsen des Hamsterrades kann in einem Marktsystem weder
von den einzelnen Akteuren einer Volkswirtschaft noch von den Nationalstaaten
einer Weltwirtschaft garantiert werden".

Was also sollen die "auf Humankapital reduzierten Menschen" tun? Sie können
sich in einem Verein zusammentun wie die Wissenschaftler, die an der Evangelischen
Akademie Tutzing das Projekt "Ökologie der Zeit" angesiedelt haben.

Sie lehren uns, wie "die Wiederkehr des Ähnlichen" bei weniger elastischen
Systemen zum "Takt", bei lebenden, elastischen Systemen zum "Rhythmus" wird.
Aber auch ein solcher Verein kann nur Hinweise geben, wie man dem Stress entkommt.

Fritz Reheis kann und will sich mit dem Motor der Beschleunigung, dem Turbo-
kapitalismus neoliberaler Prägung, nicht abfinden. Was er als Alternativen oder
doch als Weg in die Alternativen vorschlägt, fällt notwendigerweise etwas dünn
aus. Eine "Dualwirtschaft", "aufgeteilt in einen erwerbswirtschaftlichen und einen
eigenwirtschaftlichen Bereich", auch Tauschbörsen, die ohne Geld auskommen,
führen doch wohl eher in erholsame Nischen als in eine neue Gesellschaft.

Dasselbe gilt für regionale Komplementärwährungen. Aber Reheis geht weiter.
Er will ein Geld ohne Zinsen, ja ein "Schwundgeld", wie es Silvio Gesell schon zu
Beginn des 20. Jahrhunderts propagiert hat. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg
hat eine winzige Partei dies als Mittel zur Beschleunigung des Wirtschaftskreislaufs
propagiert, jetzt empfiehlt es Reheis zur "Drosselung der wirtschaftlichen Aktivitäten".

Das überzeugt nicht. Wäre ich weniger unter Zeitdruck, wenn ich wüsste, dass
mein Kontostand zum Monatsende um zwei Prozent abnimmt, falls ich das Geld
nicht vorher ausgebe? Auch der Ruf nach einer "demokratischen Planwirtschaft,
die den Beschleunigungsmotor abstellt", wird wohl nur wenige erreichen.

Wer dem Turbokapitalismus bescheinigt, dass er den Staat aushungert, die Kommunen
handlungsunfähig macht, weiß, dass dagegen auch Steuerpolitik nicht hilft. Das global
agierende Kapital kann jeden Staat auf dem Trockenen sitzen lassen, der ihm mit Steuern
beikommen will. Aber es muss doch etwas geben, was als "Einstieg in den Ausstieg aus
dem Kapitalismus" verstanden werden kann?

Man möchte Reheis gerne Recht geben. Aber wahrscheinlich muss sich der Turbo-
apitalismus erst einmal totlaufen, indem er die moralischen Grundlagen und staatlichen
Strukturen zerstört, ohne die er nicht gedeihen kann, indem er Gewaltmärkte an die
Stelle des staatlichen Gewaltmonopols setzt.

Bis dahin könnten mehr Menschen unter der Beschleunigung leiden, von denen einige
dann plausiblere Alternativen ersinnen, als wir es heute können. Bis dahin werden wir
als Einzelne oder in Gruppen versuchen müssen, wenigstens unsere freie Zeit außerhalb
des Hamsterrads zu verbringen.

Dass dies nötig und in Grenzen auch möglich ist, wird am Ende auch ein kritischer Leser
dieses gut und flüssig geschriebenen Buches begriffen haben. Das ist nicht wenig.


Der Rezensent war Bundestagsabgeordneter und knapp 20 Jahre lang
Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD.